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Kammerlanders Grenzgänge – Der Tote aus dem Eis

Kammerlanders Grenzgänge – Kolumne von Hans Kammerlander

© Illustration: Bianca Litscher

Hans Kammerlander über die erste Begegnung mit Ötzi

ES WAR IM SEPTEMBER 1991. Drei Wochen waren Reinhold Messner und ich nun bereits an den Grenzen unserer Heimat Südtirol entlang gewandert. Das Projekt gab mir nach der verheerenden Expedition zum Manaslu, wo zwei meiner Freunde verunglückt waren, neuen Mut. Die Bergspitzen waren in diesen Septembertagen bereits eingeschneit, weshalb wir mehr als froh waren, uns in der Similaunhütte aufzuwärmen. Kaum hatten wir uns hingesetzt, stürmte der Wirt herbei und erzählte, ein deutsches Ehepaar hätte etwas weiter oben eine notdürftig bekleidete Leiche gefunden.

Reinholds Neugier war, wie so oft, sofort geweckt. Wir entschieden, uns das anzuschauen. Ohne große Erwartungen sind wir also noch einmal eine halbe Stunde hinaufmarschiert, Richtung Similaungletscher. Tote Bergsteiger sind für mich kein ungewöhnlicher Anblick mehr, leider. Aber das, was dort noch halb verdeckt im Eis lag, hatte ich noch nie gesehen. Es wirkte wie eine Lederpuppe in der Größe eines Kindes. Der Kopf, die Schulter und Teile des Rückens schauten heraus. Ich habe den Kopf nach hinten gedrückt. Die Pupillen waren noch drin, das hat mich beeindruckt. Da lagen auch ein paar Gegenstände herum, die wir nicht recht einordnen konnten. Baumrinde zum Beispiel. Wir haben dann gleich noch ein paar Bilder gemacht, so wie wir es auf der ganzen Südtirol-Umrundung getan haben. Auch das ist Teil unseres Berufes. Nie hätte ich mir in diesem Moment vorstellen können, dass diese Fotos einmal in einem Museum hängen würden.

Reinhold meinte, der Tote aus dem Eis sei mindestens 500 Jahre alt. Wir haben uns dann, wieder zurück auf der Hütte, sehr dafür eingesetzt, dass Experten kommen, um die Leiche zu bergen. Das ist unser Verdienst, wer weiß, was sonst passiert wäre. Dass Reinhold Messner und ich nur kurz nach dem Fund an der Stelle vorbeikamen, mochten viele nicht für Zufall halten. Es folgten zynische Berichte in den Medien, Messner hätte wieder einen Yeti gefunden. Ein Autor hat sogar die absurde These aufgestellt, Reinhold hätte eine Mumie aus Ägypten hierhergebracht und vergraben lassen, um bei unserer Umrundung eine Sensation präsentieren zu können. Es ist nicht schön, wenn man solche Sachen liest.

Wir hatten noch etwa die Hälfte unserer Tour vor uns und haben das Thema rund um den Toten aus dem Eis natürlich weiter verfolgt. Der Bursche ist dann fast täglich 500 Jahre älter geworden. Ich dachte anfänglich, das ist Quatsch.

Wenn ich mir jetzt anschaue, was in diesen 25 Jahren alles mit Ötzi passiert ist, dann frage ich mich, ob er nicht alles daran gesetzt hätte, sich zum Sterben in eine Felsspalte zu schleppen. Bei der Bergung ist man ja nicht gerade zimperlich mit ihm umgegangen, er wurde zig Mal obduziert, alle starren ihn nackt an, man erforscht seinen Mageninhalt und letzthin hat man sogar seine Stimme rekonstruiert.

Für Reinhold und mich war der Fund von Ötzi ein Erlebnis im Rahmen einer ganz besonderen Geschichte. Die Südtirol-Umrundung war die vielleicht schönste Bergtour, die ich je gemacht habe. Wir hatten Zeit zu reden und haben viel gelacht. An den großen Bergen der Welt war ich immer froh, wenn es vorbei war. Dieses Mal war ich fast ein bisschen traurig.

Der Extrembergsteiger
 
Der 1956 in Südtirol geborene Extrembergsteiger gehört zu den bekanntesten seines Fachs. Er stand auf 12 Achttausendern und meisterte als Erster eine von zwei Varianten der Seven Second Summits. In jeder Ausgabe von ALPS erzählt Kammerlander eine Geschichte, die ihn besonders geprägt hat.
 
Web: www.kammerlander.com