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Kammerlanders Grenzgänge – Leben ohne Angst

Kammerlanders Grenzgänge – Leben ohne Angst

© Illustration: Bianca Litscher

Hans Kammerlander über sein Leben ohne Angst

JEDER MENSCH KENNT DAS GEFÜHL VON ANGST. Sie ist eine Art Selbstschutz. Aber sie lähmt auch. Das habe ich in meinen jungen Jahren als Bergsteiger mehr als einmal erlebt. Aus Selbstüberschätzung und Übermut habe ich mich in gefährliche Situationen gebracht. Da war ich nahe am Absturz – und spürte die Angst fast körperlich.

Am Berg ist Angst ein schlechter Berater. Nicht nur die Angst vor einer unüberwindbar scheinenden Situation, sondern auch die Angst vor dem Scheitern. Nie habe ich das eindrucksvoller erlebt als 1989. Damals organisierte Reinhold Messner eine Expedition zur Südwand des Lhotse. Er lud dafür einige der besten Bergsteiger der damaligen Zeit ein, darunter auch mich. Das Ziel war, den Gipfel über eine neue Route zu erreichen. Wir sind grandios gescheitert. Da war zu viel Ego auf einem Haufen. Die Teilnehmer haben sich regelrecht belagert. Niemand wollte sich bei der Vorbereitung verausgaben und die Chance auf den Gipfel verpassen. Die Angst zu scheitern war so groß, dass niemand aus dem Team ganz nach oben kam.

Das war eine dieser Situationen, die mir gezeigt haben: Am Berg zu scheitern heißt nicht, einen Gipfel nicht zu erreichen. Gescheitert wäre ich, wenn ich nicht mehr zurückkomme. Ein Ziel, das ich angepeilt und nicht erreicht habe, kann ich noch einmal versuchen.

Ich war in meinem Leben oft mit dem Tod konfrontiert. Meine Mutter starb, als ich zehn Jahre alt war. Auch in meiner Zeit bei der Bergrettung gab es Situationen, in denen wir nicht mehr helfen konnten. Zu viele meiner Seilpartner sind am Berg gestorben – einige Male, als ich dabei war. Am K2 ging eine riesige Eislawine nur knapp neben mir ab. In diesem Moment war ich sicher: Das war’s. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb kann ich sagen: Der Tod macht mir keine Angst. Ich weiß, dass es am Ende nicht so schrecklich sein wird wie es in unserer Gesellschaft immer empfunden wird. Das heißt nicht, dass ich das Leben nicht zu schätzen weiß. Im Gegenteil. Auf meinen Expeditionen hat mich immer sehr beeindruckt, wie die Sherpas mit solchen existenziellen Fragen umgegangen sind. Sie freuen sich, wenn jemand einen Gipfel erreicht. Sie hadern nicht, wenn es nicht klappt. Sie trauern, wenn jemand stirbt. Aber sie leben ihr Leben weiter.

Für mich ist es eine Bereicherung, dass ich im Laufe der Jahre die Angst am Berg fast vollständig ablegen konnte. Ich habe so viele gefährliche Situationen erlebt und dadurch viel gelernt. Ich lasse mich auf nichts mehr ein, das ich nicht kontrollieren kann. Ich mache das, was ich kann. Auf meinem Weg nach vorne lasse ich es nicht mehr so weit kommen, sondern drehe vorher um. Es ist angenehm, ein Leben zu führen, in dem dich die Angst nicht schon am Morgen überfällt und bis zum Einschlafen begleitet.

Genau deshalb kann ich jetzt zum Manaslu zurückkehren. Am Berg der Seele starben 1991 zwei Freunde. Doch jetzt kann ich es wieder bis zum Gipfel versuchen. Ganz ohne Angst vor dem Scheitern.

Der Extrembergsteiger
 
Der 1956 in Südtirol geborene Extrembergsteiger gehört zu den bekanntesten seines Fachs. Er stand auf 12 Achttausendern und meisterte als Erster eine von zwei Varianten der Seven Second Summits. In jeder Ausgabe von ALPS erzählt Kammerlander eine Geschichte, die ihn besonders geprägt hat.
 
Web: www.kammerlander.com