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Kammerlanders Grenzgänge – Vor dunklen Wolken hüte ich mich bis heute

Kammerlanders Grenzgänge – Kolumne von Hans Kammerlander

© Illustration: Bianca Litscher

Hans Kammerlander darüber, wie seine Kindheit den späteren Weg beeinflusste

ICH WUCHS AUF EINEM BERGBAUERNHOF AUF, in einem kleinen Dorf, in das bis in die Sechzigerjahre keine Straße führte. Laufen lernte ich auf steilen Bergwiesen, Spielzeug kannte ich nicht, zumindest kein herkömmliches. Bei schönem Wetter arbeiteten wir so lange, bis das ganze Heu eingebracht war. Wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, dann weiß ich, sie hat meinen Weg zu den höchsten Bergen der Welt geebnet.

Zwischen 50 und 60 Kilo schulterte ich als junger Bub in der Kraxe, später noch einmal viele Kilos mehr. Das ist ein Training, besser als jedes Fitnessstudio. Konditionell ging ich dabei an meine Grenzen. Es ist vielleicht nicht einfach vorstellbar, aber die letzten Meter auf dem Weg zum Gipfel des K2 waren nicht anstrengender als so mancher Tag auf dem Feld.

Durchhalten können, sich immer wieder motivieren, den Weg zu Ende gehen: All das ist beim Extrembergsteigen enorm wichtig. Du kannst ja nicht mitten in einer Klettertour sagen: Jetzt lasse ich es. Ich konnte das, weil ich auch Zuhause nichts anderes gelernt habe. Wir verschoben die Arbeit nicht auf morgen, sondern folgten dem Rhythmus, den die Natur vorgab. Das, was man anfing, machte man fertig. Punkt.

Natürlich war ich nicht in allen Belangen so strebsam. Schule war für mich langweilig. Lieber kraxelte ich auf einen Baum und guckte frech über die Baumkrone. Angst? Fehlanzeige! Und dann die Nächte auf der Alm. Ich erinnere mich noch genau, wie der Regen aufs Hüttendach klatschte, dass man meinen mochte, es bricht gleich alles auseinander. Und dieses Donnergrollen … Mein riesiger Respekt vor der Natur rührt aus dieser Zeit. Vor dunklen Wolken hüte ich mich bis heute. Die Gefahr vor Gewittern kannst du nicht aus dem Lehrbuch lernen, auch wenn viele das meinen.

Wir Kinder mussten damals viel Eigenverantwortung übernehmen. Es hatte niemand Zeit, uns permanent zu beaufsichtigen. Wenn ich die Schule schwänzte, ist das nicht groß aufgefallen. Ich war es gewohnt, meine Entscheidungen zu treffen. Ein Vorteil, als ich später auf Expedition ging. Soll ich – oder lieber doch nicht? Ein solches Hin und Her gab es kaum. Wieder zurück im Tal war es dann ungleich schwieriger. Wenn du Monate am Limit lebst und deine eigenen Gesetze machst, findest du die vielen Verbote einfach nur überflüssig.

Auf Expedition zu gehen, bedeutet ein Leben auf Sparflamme. Bei der Gasherbrum-Doppelüberschreitung 1984 mit Reinhold Messner hatten wir an den letzten Tagen gar nichts mehr zu essen dabei. Damit zurechtzukommen, ist mir immer leichter gefallen als meinen Seilpartnern. Vielleicht, weil wir Zuhause auch nie viel hatten.

Als ich zehn Jahre alt war, starb meine Mutter. Sie war eine ängstliche Frau, überall sah sie Gefahren. Sie hätte mit meinem Weg sicher Probleme gehabt. Wahrscheinlich wäre ich nicht der geworden, der ich heute bin. Denn die Jugendzeit prägt dein Leben, auf welche Art auch immer.

Der Extrembergsteiger
 
Der 1956 in Südtirol geborene Extrembergsteiger gehört zu den bekanntesten seines Fachs. Er stand auf 12 Achttausendern und meisterte als Erster eine von zwei Varianten der Seven Second Summits. In jeder Ausgabe von ALPS erzählt Kammerlander eine Geschichte, die ihn besonders geprägt hat.
 
Web: www.kammerlander.com