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So viel Erde braucht der Mensch

So viel Erde braucht der Mensch

»Am Sunntig werd’ nitt g’arbeit’, der isch heilig! Da kunn des Wetter schian sein wia’s mog« »Am Sonntag wird nicht gearbeitet, der ist heilig! Da kann das Wetter schön sein wie es will« © Foto: Wilfried F. Noisternig

 

Ein paar Almwiesen, ein alter Hof und ein Talent zur Bescheidenheit. So lebt der Bergbauer Jenewein, fast wie ein Eremit. Zu seinem Leben hat ihn der Dichter Tolstoi inspiriert. Ein Hofbesuch beim Kugler, dem weisen Mann aus Tirol (ALPS Magazine #34 2/2017 Review)

Was braucht ein Mensch, um glücklich zu sein? Wie gelingt ein Leben? Die Antwort darauf ist ganz einfach, wenn man den Kugler-Bauern besucht, der hoch über der Talsohle des Wipptals bei Matrei am Brenner wohnt. Man braucht nicht viel, wenn man mit den Schätzen, die einen umgeben, zufrieden ist. Der Kugler lebt in dem abgeschiedenen Hof am Waldrand so, wie er es von seinen Ahnen gelernt hat, ohne sich dem Zeitgeist anzupassen. Sein Lebenselixier ist die ständige Arbeit am Bauernhof mit den ihm anvertrauten Gütern: Hof, Vieh, Wiesen, Felder und Wald im kleinen Weiler Obfeldes der Tiroler Gemeinde Mühlbachl.

Wilfried Noisternig hat den Kugler jahrelang mit der Kamera begleitet und dabei viele Gespräche geführt. „Begonnen hat die Geschichte vor acht Jahren bei einem Spaziergang mit meiner Frau und unserer Hündin“, erzählt Noisternig, von Beruf praktischer Arzt in Matrei-Navis, und daneben leidenschaftlicher Fotograf.

„Als ich den Kugler das erste Mal sah, stapfte er einen Berghang hinauf mit einem Gestell, der ,Ferggl’, zum Tragen von Lasten, auf dem Rücken. Er hat sofort mein Interesse erweckt.“ Noisternig holt die Kamera heraus und macht die ersten Bilder.

Der Kugler lässt sich davon nicht irritieren und geht beharrlich seinen Weg weiter, hinauf bis zur Scheune, wo er seine Fuhre, das Heu-Reisl, zusammenstellt. Währenddessen entspinnt sich das erstes Gespräch zwischen Fotograf und Bauer. Das ist der Beginn einer langjährigen Freundschaft. Der Kugler gewährt dem Besucher im Lauf der Jahre Einblicke in seine Lebens- und Denkweise.

Da Mensch braucht ’s Haus,
und ’s Haus braucht ’n Menschen.

Der Kugler-Bauer, mit bürgerlichem Namen Josef Jenewein, stammt ursprünglich aus dem Valser Tal, wo er 1939 kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs als zweites Kind in eine Bauernfamilie hineingeboren wurde.

Schon als Säugling bin i zu meiner Tant’n auf’n
Kugler-Hof kemmen, weil dahoam im Schmirntal
hatt man mir koa Lebenschance mehr geb’n.

Seine Mutter musste hart arbeiten und sich um
den todkranken Vater kümmern:
Mit sechs Jahren war i Vollwaise
– da bin i auf Dauer zum Kugler kemmen.

Mit 17 Jahren wurde er von seiner Ziehmutter adoptiert, mit 21 Jahren hat der heute 78-Jährige den Hof übernommen.

 

So viel Erde braucht der Mensch

»’s Wichtigschte war mir immer, die Bauerschaft weiterzuführ’n, des hatt mir immer Freud’ g’macht – jed’n Tag, von der Friah bis zur Nacht!« »Meine Mutter hat immer sehr viel gearbeitet und sich um den Hof und um den todkranken Vater kümmern müssen, da hat sie dann nicht mehr genug Zeit für mich gehabt« © Foto: Wilfried F. Noisternig

 

Seitdem lebt der Kugler ein selbst bestimmtes, fast mönchisches Leben, das für die Augen des modernen Betrachters wie aus der Zeit gefallen scheint. Sein Tagesrhythmus wird bestimmt durch die Erfordernisse der bäuerlichen Arbeit, durch die Jahreszeiten und auch durch das gerade vorherrschende Wetter. Jeden Tag und Jahr für Jahr. Immer geht er mit der ihm eigenen Ruhe und Ausgeglichenheit an sein Tagwerk. Auch bei der Heuernte im Sommer verfährt er ganz nach seinem Motto:

Wenn’s halt amol regnet, leg’ i mi zui zum Ofn
und wart’, bis es wieder schian werd’.

Seine Arbeit teilt er sich gut ein. Er mäht immer gerade so viel ab, wie es ihm die Umstände erlauben, um das Heu trocken einzubringen. Dafür dauert es halt um einiges länger, was sich dann in den verschiedenen Stadien des Graswuchses auf seinen Wiesen zeigt.

I hun alleweil g’rad soviel getan,
wia sich’s aus’gangen isch.

Weisheit braucht nur wenig Worte. „Nie ist zu wenig, was genügt“, hat schon Seneca gesagt. Der Kugler „lebt“ diese Anspruchslosigkeit als Prinzip. „Grundpfeiler für sein bodenständiges Leben sind wohl sein g’sunder Hausverstand und seine ehrlich gelebte Frömmigkeit“, erzählt Noisternig. Mit diesen inneren Kräften ausgestattet, lebt er seine Genügsamkeit und seine Lebenszufriedenheit.

Am Sunntig werd’ nitt g’arbeit’, der isch heilig!
Da kunn des Wetter schian sein wia’s mog.

Auf seinem Hof lebt der Bauer allein. Frau, Familie, Kinder? Das hat sich nicht ergeben. Trotzdem führt er kein gänzliches Einsiedlerleben. Immer wieder kommen Leute bei ihm am Hof vorbei, zum Reden, auf einen kurzen „Hoangascht“. Er ist gut informiert über die Menschen in seiner Umgebung. Das Weltgeschehen verfolgt er bewusst nur aus der Ferne.

An Fernseher brauch i koan, weil do siggsch
’n ganz’n Tog eh nur Propaganda!

Ein Mobiltelefon ist ihm ebenso fremd wie moderne Technik überhaupt.

Maschinenfreund bin i nia g’wes’n.

Seine Lebensphilosophie scheint darin begründet zu sein. Er macht lieber alles händisch.
Und diese Grundhaltung der Bewirtschaftung hat er zeitlebens beibehalten. Davon kann ihn auch der beste Verkäufer nicht abbringen.

Jed’n Sunntig hatt mi der Maschinenvertreter
nach da Messe ab’passt und g’fragg’, ob i nitt
endlich an Traktor kaffen mecht. A Zeitlang isch’
der Maschinenvertreter a immer wieder zu mir
auferkemmen. Aber dann hatt er’s aufgeb’m:
»Du kaffsch joa decht nix!«

Lediglich in den letzten Jahren hat er manchmal die Errungenschaften der Technik genutzt, zum Beispiel einmal im Jahr den Miststreuer vom Maschinenring angemietet, weil das händische Ausbringen des Kuhmists eine zu harte Arbeit war.

Seine Welt liegt geschützt vom umgebenden Wald, eingebettet in ein hügeliges, steiles Wiesengelände, und wird von einem einzigartigen Holzzaun von 2100 Meter Länge nach außen hin abgegrenzt. Dieser Zaun verleiht dem Hof seine Identität. Der Bauer hat ihn in jahrelanger Arbeit aus Lärchenholz gefertigt. Jede Latte ist mit der Hand gehauen. Die Lebensdauer des Zauns: mindestens ewig.

Es gibt Abschnitte, de hun i
vor 50 Jahr’ g’macht, und die sein
immer no intakt.

Kugler ist ein lustiger und lebensfroher Mensch und alles andere als weltfremd. Man kann mit ihm auf seine wortkarge Art auch hochphilosophische Gespräche führen. Wenn ihn Besucher aus der Großstadt nach dem Sinn des Lebens fragen, schweigt er. Das ist Antwort genug. Die Art, wie er lebt, spricht für sich. Dem Fotografen Noisternig hat er von einem Schlüsselmoment erzählt, der sein Leben verändert hat. Als Kind in der Schule hört er zum ersten Mal die tragikkomische Geschichte des Bauern Pachom von Leo N. Tolstoi.

In der Volksschul’ hatt’ ins der Lehrer von an
russischen Dichter d’erzählt, der hatt’ a G’schicht
g’schrieb’n: „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ –
Des hun i mir dermerkt!

Der Bauer Pachom in der Erzählung von Tolstoi ist das Gegenteil des Kugler-Bauern. Der Hof, der Stall und das Vieh sind Pachom nicht genug. Er ist ein Mensch des Mehr. Der Teufel hat dem Raffgierigen einen Floh ins Ohr gesetzt: Anderswo ist das Gras grüner. „Pachoms Herz entbrannte. Er sagte sich: ›Was soll ich mich hier in der Enge plagen, wenn ich anderswo viel besser leben kann? Wenn ich genug Land hätte, so fürchtete ich niemand, nicht einmal den Teufel.“

 

So viel Erde braucht der Mensch

»’s Wichtigschte war mir immer, die Bauerschaft weiterzuführ’n, des hatt mir immer Freud’ g’macht – jed’n Tag, von der Friah bis zur Nacht!« »Das Wichtigste war mir immer, die Bauerschaft weiterzuführen, das hat mir immer Freude gemacht – jeden Tag, von morgens bis abends!« © Foto: Wilfried F. Noisternig

 

Die Geschichte „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ geht nicht gut aus. Am Ende hört Pachom vom fernen Baschkirenland. Dort gäbe es Grundstücke fast geschenkt, erzählt ihm ein durchreisender Kaufmann. Als er dort hinreist, ist er verblüfft von der Freundlichkeit der Steppenbewohner. Die Baschkiren bieten ihm so viel Land an wie er möchte.

»Und welchen Preis verlangt ihr dafür?« fragte Pachom. »Wir haben nur einen Preis: tausend Rubel für den Tag.« Pachom verstand es nicht. »Was ist denn der Tag für ein Maß?“ – »Wir verstehen so nicht zu rechnen«, erwiderte der Älteste.
 »Wir verkaufen so: Wieviel Land du an einem Tage umgehen kannst, soviel gehört dir. Und ein Tag kostet tausend Rubel.«
 Pachom wunderte sich.
 »In einem Tage«, sagte er, »kann man ja ein sehr großes Stück Land umgehen.“
Pachom läuft bei Sonnenaufgang los und übernimmt sich in seiner Gier. Zu viel Land hat er im Lauf des Tages umrundet und sich dabei keine Rast gegönnt. Mit letzter Kraft erreicht er bei Sonnuntergang den Ausgangspunkt. »Gut gemacht!«, schreit der Älteste. »Viel Land hast du gewonnen.« Da knicken die Beine des Bauern vor Erschöpfung ein und er fällt hin. „Pachoms Knecht kam gelaufen, wollte ihn aufheben, aber Pachom lag tot da, und aus seinem Munde rann Blut. Der Knecht nahm die Hacke, grub Pachom ein Grab, genau so lang wie das Stück Erde, das er mit seinem Körper, von den Füßen bis zum Kopf, bedeckte – sechs Ellen –, und scharrte ihn ein.“

Im Herzen des Kugler-Bauern aus Tirol hat sich die Geschichte vom russischen Bauern, der nicht genug kriegen kann und schließlich an seiner Gier zugrunde geht, tief eingebrannt. Sein Talent zur Bescheidenheit und das Wissen um das rechte Maß des Lebens hätte auch dem Dichter Tolstoi gefallen. Der berühmte Schriftsteller und Graf bewunderte die einfachsten Menschen und kleidete sich wie sie. Und arbeitete mit bloßen Händen auf den Feldern. Durch die schwere körperliche Arbeit erhoffte er sich, inneren Frieden zu finden. Für Bauernkinder gründete er über 20 Schulen. In seinen Tagebüchern schreibt er von seiner Idee, eine eigene Religion zu gründen, die kein zukünftiges Leben im Paradies verspricht, sondern das Glück auf der Erde gewährt.

Das nützliche Leben, von dem Tolstoi auf der Suche nach dem Sinn des Daseins und nach wahrem Glauben träumte, hat der Kugler-Bauer verwirklicht. Seine Lebensschule ist die bäuerliche Arbeit, deren täglicher Rhythmus sein Leben seit der Kindheit bestimmt. Die Naturverbundenheit und die Zufriedenheit mit dem Erreichten sind die beneidenswerten Schätze des Bauern, der sich mit seiner Hände Arbeit das tägliche Brot verdient.

Hungern hun’ i nia miass’n!

Wer sagt das denn heute noch, in unserer Überflussgesellschaft? Wenn der Kugler-Bauer das mit seinen einfachen Worten so ausdrückt, dann spricht daraus die Dankbarkeit als Lebenshaltung. Wie viel Erde brauchen wir für uns selbst, um zu leben? „Vielleicht können wir von seinem Beispiel lernen“, sagt Noisternig, der mit seinem Buch zu einer meditativen Reise einlädt. Auch ökologisch gesehen ist Kugler ein Vorbild, glaubt der Autor. Mit seiner naturnahen Lebensweise hinterlässt er einen ökologischen Fußabdruck, von dem wir nur träumen können. Das soll uns aber auch Anstoß sein, darüber nachzudenken, wie wir unserer Mitwelt Gutes tun können.

Der Kugler versteht so viel Aufhebens um seine Person nicht. Er sagt: „Bauer bin i alleweil gern g’wesen, gleich wia mei Muatter – die war a Bäuerin mit Leib und Seel’!“

Gut zu Wissen
So viel Erde braucht der Mensch 
Ein Fotoband mit einer starken Botschaft
 
ALPS-Fazit: Das Porträt des Kugler-Bauern ist ein weises Buch über das Leben und worauf es wirklich ankommt.
 
„Wie viel Erde braucht der Mensch?“ // Wilhelm F. Noistering // Tyrolia Verlag // 120 Seiten // 78 Fotografien // inklusive der Erzählung „Wieviel Erde braucht der Mensch“ von Leo Tolstoi // 34,95 Euro
 
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