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Ziach-Manufaktur – So entsteht Öllerers legendäre Harmonika

Ziach-Manufaktur – So entsteht Öllerers legandäre Harmonika. Wer spielen will, muss hören: Hans Kirchhofer beim Stimmen einer neuen Öllerer

Wer spielen will, muss hören: Hans Kirchhofer beim Stimmen einer neuen Öllerer © Fotos: Lisa Hörterer

Sie ist das alpenländische Instrument schlechthin: die diatonische Harmonika. Bei Öllerer bekommt der Kunde ein individuelles Stück. Wer hier arbeitet, braucht Geschick – und Feuer für die Musik

Es ist, als ob die Werkstatt über die Jahre klammheimlich Besitz vom Gebäude ergriffen hat – fast wie ein Efeu. Zwar hängt ein Zettel an der Treppe mit einem Pfeil: „Die Musi spielt oben!“ Doch auch in dem Raum, wo „Büro“ an der Tür steht, hat es sich neben dem Schreibtisch längst eine Werkbank bequem gemacht. Ein Lötkolben, ein paar Feilen und mechanische Kleinteile liegen drauf, auf der Seite hängt eine abgegriffene Bohrmaschine. Klar: Hier wird überall gewerkelt. Was hier entsteht, das verraten die energischen Tremolotöne, die durchs Haus schweben: die diatonische Knopfharmonika.

Offiziell heißt das Instrument – ohne welches kaum eine Tanzlmusi zwischen Oberstdorf und Bozen auskommt – „wechseltöniges Handzuginstrument“. Manche sagen „Steirische“ – obwohl sie genau genommen gar nichts mit der Steiermark zu tun hat. „Bei uns sagt man ‚Ziach’“, erklärt Hans Kirchhofer, Mitgeschäftsführer von Öllerer. Öllerer – der Name hat unter Volksmusikanten einen Klang wie Fender oder Gibson unter Rockmusikern. Nur, dass die Gitarrenhersteller längst in Fernost produzieren – Öllerer dagegen wird in Handarbeit in Freilassing gebaut. „Wir schneidern das Instrument dem künftigen Besitzer auf den Leib. Das macht für die Massenproduktion keinen Sinn“, sagt der 57-Jährige. Der Ordner mit den Aufträgen ist dick, Hersteller solcher Harmonikas gibt es wenige. Und wer eine Öllerer will, muss mindestens 6000 Euro investieren und ein paar Monate Zeit haben. Dafür hat er dann ein Instrument fast fürs Leben. Aber bitte: nicht zu viel Romantik. Das Gebäude, wo die Öllerer-Hamonikas entstehen, steht im Industriegebiet von Freilassing. Ein nüchterner Gewerbebau – keine Holzhütte mit Schnitzereien. Dennoch: Das Bergpanorama ringsum macht klar, dass man sich im Berchtesgadener Land befindet und Salzburg vor der Tür ist.

Feintuning per Hand: Damit Ton und Tremolo stimmen, wird Material von den Stimmzungen abgenommen
Feintuning per Hand: Damit Ton und Tremolo stimmen, wird Material von den Stimmzungen abgenommen

1948 wurde die Firma von Georg Öllerer in Freilassings Ortskern gegründet. Der 1991 verstorbene Vollblutmusikant und -handwerker ist in der Firma als Foto überall präsent – sein Enkel Kirchhofer hält sein Andenken am Leben. Er kümmert sich um den Instrumentenbau, Cousin Georg Öllerer junior leitet als Hauptgeschäftsführer das Gesamtunternehmen mit Musikalienhandel. In den 1970er-Jahren zog die Firma aus Platzgründen um. Der Nutzbau hat jedoch inzwischen die ehrliche Patina einer Manufaktur. Und das ist Öllerer tatsächlich: eine Manufaktur. Während sich heute viele Hersteller ausgefallener Produkte mit diesem Etikett schmücken und in Wahrheit nicht selten Händler sind, wird die Harmonika bei Öllerer von Hand (lateinisch manus) gemacht (lateinisch facere). Nur wenige Teile – wie die Klangtrichter oder die Bälge – werden zugekauft. Ansonsten führt jeder Mitarbeiter an seiner Werkbank seine Arbeitsschritte per Hand durch: Jedes einzelne Instrument wandert über seinen Tisch. Der eine fertigt die Gehäuse und bringt das gewünschte Furnierholz auf, ein anderer biegt die Mechaniken und baut sie ein. Und am Ende stimmt der Chef persönlich.

„Die Leidenschaft für das Instrument hält uns hier alle zusammen.“

Andreas Nöß // Handzuginstrumentenbauer

So sitzt Kirchhofer, selbst Handzuginstrumentenmacher und Meister seines Handwerks, im ersten Stock am Stimmtisch. Erinnert ein wenig an eine Nähmaschine: Per Pedal betätigt er einen Blasebalg unten. Oben bläst die Luft in einen Stimmstock – so heißt das Herzstück der Harmonika: Die Stimmzungen darauf schwingen unter Luftzug und erzeugen Töne. Kirchhofer geht mit einer filigranen Feile übers Metall und entfernt den Hauch von Material. Abermals pustet der Balg: „Tuuut!“ Kirchhofer lauscht und ist zufrieden. „Richtig präzise kann man den Klang erst im Gehäuse stimmen“, sagt Kirchhofer. „Aber so muss ich die Stimmstöcke statt tausend Mal nur 800-mal aus- und einbauen.“ Und das mit der Zahl ist keine Übertreibung: Neben mehreren Reihen auf den Diskantstimmstöcken – für die Melodie – sind auch die Bassstimmen zu stimmen. Es stecken rund hundert Arbeitsstunden in einer Öllerer.

Heute nennt man das Customizing: Der Kunde kann sich sein Instrument nach seinen Wünschen zusammenstellen – optisch wie klanglich

Wer bei den Mitarbeitern nachfragt, ob er denn auch privat eine Ziach spiele, kriegt praktisch immer ein „Ja“ als Antwort. So auch bei Christian Amon. Der 52-Jährige aus dem Salzkammergut ist bei Öllerer „Mädchen für alles“. Seit 2003 im Betrieb, Quereinsteiger, der das Hobby zum Beruf gemacht hat. „Aber Musikant, nicht Musiker“, betont er. Er erklärt den Unterschied: „Der Musiker muss spielen, um Frau und Kinder zu ernähren. Und der Musikant muss spielen, weil es seine Leidenschaft ist. Aber er kann aufhören, wenn er nicht mehr mag.“

Während Amon durch das Haus führt und die vielen Teile und Arbeitsstücke zeigt, erklärt er, was eine Öllerer-Harmonika einzigartig macht: „Unser Kunde kann sich genau aussuchen, was für ein Instrument er will“, sagt er. Zum einen optisch: Soll das Gehäuse mit Olivenholz, Eibe, Nussbaum oder Bergulme furniert – oder gar mit Schnitzereien im Massivholz veredelt sein? Dürfen es Holzknöpfe sein oder Perlmutt? Zum anderen aber: Wie soll das Instrument klingen? Hier wird vor allem das Tremolo bei den Stimmzungen nach Wunsch angepasst. „Der eine mag den Klang im Stil der Oberkrainer: brummig und krachert. Der andere macht Stubenmusi und will es eher zart. Oder im Extremfall: ganz ohne Tremolo – etwa für Advents- oder Wiegenlieder für die kleinen Butzerl“, sagt Amon.

„Wir schneidern das Instrument dem künftigen Besitzer auf den Leib.“

Hans Kirchhofer // Mitgeschäftsführer von Öllerer

Die diatonische Harmonika ist also enorm vielseitig. In den vergangenen Jahren erlebte sie ein Comeback – und eroberte neue musikalische Genres. Auch durch die Rückbesinnung auf den „Heimatsound“: Bands wie LaBrassBanda, die sich an Volksmusik orientieren und in Dialekt singen. Zeitgleich wurde die „Ziach“ durch den Schlagersänger Andreas Gabalier präsenter, der sie aber eher als Showelement benützt. Nicht ganz unschuldig an der neuen Popularität: der Musiker und Komponist Herbert Pixner aus dem Südtiroler Passeiertal. Er spielt sie in atemberaubender Virtuosität. Und interpretiert neben Volksmusikstücken auch Tango, Musette und Weltmusik: ungewohnte Klänge, die der Harmonika Aktualität und Universalität einhauchten.

Die Ziach ist also ganz schön rumgekommen. Heute wird sie im Allgäu, in der Oberpfalz, dem Chiemgau, in Tirol oder auch im Salzkammergut gespielt. Wenn Leute gemütlich zusammensitzen und Lust auf Tanzen bei einem Boarischen oder einer Polka haben. Genauso bunt sind die Öllerer-Mitarbeiter aus dem alpenländischen Raum zusammengewürfelt. Etwa Veronika Kocher, mit 22 Jahren die jüngste Nachwuchskraft: Sie kommt aus Salzburg. Während sie den Verdeckstoff ins Gehäuse klebt, erzählt sie: „Eigentlich bin ich gelernte Orgelbauerin – aber ich wollte immer ins ‚filigrane Fach’.“

„Zum Stimmen muss ich die Stimmstöcke pro Instrument etwa 800-mal ein- und ausbauen.“

Hans Kirchhofer

„Es hat auch früher Leute gegeben, die unglaublich gut gespielt haben“, sagt Kirchhofer. „Nur haben die im Wirtshaus oder zur Gaudi gespielt, die traten nie so in die Öffentlichkeit.“ Aber was Kirchhofer feststellen kann: Während früher einfache Leute zu ihm kamen, sind es heute auch Vertreter höherer Schichten: Die Diatonische ist gesellschaftsfähig geworden. Kirchhofer erklärt, dass das Instrument seinen Ursprung in Thüringen hatte und den Weg über Böhmen nach Wien nahm – von wo es sich im 19. Jahrhundert über den ganzen Alpenraum verbreitete.

Kocher baut die Mechaniken ein, schaut, dass die Klappen auf dem Leder gut schließen. Seit sie sieben Jahre alt ist, spielt sie eine Diatonische – neben diversen anderen Instrumenten. Sie hat eine eigene Gruppe, auch schon eine CD mit dem Salzburger Musiker Thomas Hofbauer aufgenommen. Ihre Spezialität: Choralstücke auf der Ziach. „Das sind halt die Relikte vom Orgelbau“, sagt sie. Oder Clemens Juranek: Der 22-Jährige passt gerade die Stimmstöcke an, dass sie gut ins Gehäuse passen. „Das muss alles sehr genau sein “, erklärt er. Seit März besucht er die Meisterschule. Und spielt in seiner Freizeit traditionelle Volksmusik – aber auch Pixnerstücke. Klar, auch er ist ja Tiroler: Jedes Wochenende zieht es ihn nach Hause nach Völs bei Innsbruck zum Musizieren.

Alles wie früher: Im Manufakturbetrieb Öllerer wird seit 1948 per Hand gefertigt

Nicht zuletzt ist einer aus dem Pfaffenwinkel bei Öllerer: Andreas Nöß aus Steingaden, der erst Schreiner lernte, bevor bei Öllerer die ersehnte Lehrstelle frei wurde. Momentan unterstützt er Christian Wimmer unten in der Schreinerei, wo die Gehäuse entstehen und die edlen Furniere lagern. Auch er ein Vollblutmusikant, mit neun Jahren angefangen. Zuhause spielt er in dem Tanzmusi-Trio „Schreinerbuam“. Und macht in der Blech-Partyband „WambaBrassClub“ den „Ziachara“. Pendelt also ebenso zwischen den Welten. Für ihn, so erklärt der 23-Jährige, sei das mit Hobby und Beruf sehr ausgewogen. „Und so unterschiedlich wir hier im Betrieb alle sind: Die Leidenschaft für dieses einzigartige Instrument hält uns alle zusammen.“

Kategorie ALPENLUST, Handgemacht

Klaus Mergel, Jahrgang 1968, lebt und arbeitet dort, wo Oberbayern endet und das Allgäu beginnt: im Lechrain. Der freie Texter und Journalist bewohnt ein Bauernhaus aus dem Jahre 1732 und genießt die Nähe der Berge, die er auch gerne besteigt, wenn immer er nicht gerade am Schreibtisch sitzen muss.