Beim Alpabzug Flimserstein im Schweizer Kanton Graubünden ziehen jedes Jahr im September knapp 200 Kühe und rund 100 Kälber, begleitet von 60 Älplerinnen und Älplern, die geschichtsträchtige Scala Mola hinunter ins Hochtal Bargis und weiter nach Flims. Für viele Schaulustige und Einheimische ist dies ein Grund zum Feiern. Für Alpmeister Roman Niederberger hingegen ein Stück gelebte Kultur, getragen von Glauben, Verantwortung und harter Arbeit
Es ist noch dunkel, als Roman Niederberger aufsteht. Eigentlich viel zu früh. Noch wirkt alles wie aus der Zeit gefallen, bevor der Alpabzug die Berge zum Leben erwecken wird. In der Nacht vor dem großen Tag kommt er nur schwer zur Ruhe. Nicht aus Stress, sondern aus tiefer Verbundenheit zu Tieren und Brauchtum. Als Alpmeister trägt er die Verantwortung für den gesamten Alpabzug Flimserstein.
Mit der ersten Materialbahn fährt er von Fidaz in der Ferienregion Flims Laax rund 1000 Höhenmeter hinauf, vorbei an den steilen Felsabbrüchen des Flimsersteins. Durch solch ausgesetztes Gelände muss er später den Abstieg wagen: über einen schmalen, in den Felsen gehauenen Pfad – die Scala Mola. Dieser uralte Alpenweg ist seit Jahrhunderten eine Bewährungsprobe für die Flimser Älplerinnen und Älpler und hat den Alpabzug Flimserstein weit über die Bündner Berge hinaus berühmt gemacht. Heute ist er auch ein buntes Spektakel für Gäste und Einheimische.

Geschmückte Kühe auf der Alp Flimserstein.

Roman Niederberger (r.) und ein Helfer beim Schmücken.

Bauern und Helfer werden instruiert.

Stolze Älpler und Älplerinnen.

Herausfordernde Scala Mola.

Das Älplerpaar führt den Abzug an.
„Für mich ist der Alpabzug mehr als ein Event. Es ist der Moment, in dem wir mit unseren Tieren etwas Ursprüngliches weitertragen“, sagt er. Was früher ein intimes Fest für die Einheimischen war, ist heute ein ausgelassenes Spektakel mit mehreren Tausend Besuchern. Während die Älplerinnen und Älpler ihre Kühe und Kälber von der Alp Flimserstein über die Scala Mola ins Hochtal Bargis und weiter ins Tal begleiten, kommen nicht nur die Tiere in Bewegung. Auch das Gemeinschaftsgefühl und altes Wissen erwachen zu neuem Leben.
„Es ist schön, wenn Menschen Freude an unseren Traditionen haben“, sagt der Alpmeister. Doch seine Gefühle sind zwiegespalten. „Die wahre Bedeutung dieser Tradition zu vermitteln ist mir besonders wichtig.“ Als Alpmeister koordiniert Roman die gesamte Alpsaison: Er organisiert den Auf- und Abtrieb, kümmert sich um die Betreuung der Tiere, teilt die Helfer ein und hat die Sicherheit der Kühe und des gesamten Teams im Blick. Für ihn sind Abtrieb und Alpwirtschaft weit mehr als nur Arbeit. Sie sind Ausdruck eines Lebens im Einklang mit Natur und Tieren, bodenständig und mit innerer Überzeugung.
Diese Haltung spiegelt sich in den Vorbereitungen zum Alpabzug wider. Bevor es gegen 11 Uhr losgeht, gibt es einiges zu tun. Die Älplerinnen und Älpler und ihre Helfer schmücken etwa 30 Kühe mit Blumen. Und natürlich mit großen Glocken, die den traditionellen Klang des Alpabzugs verkörpern. „Es dürfen nicht zu viele Kühe geschmückt werden. Das würde die Sicherheit und das Wohl der Tiere gefährden.“ Die Reihenfolge richtet sich nicht nach Prestige, sondern nach Erfahrung. Die fitten und stärkeren Kühe gehen zuerst. Sie kennen den Weg und meistern den Abstieg am besten. Es darf keine Unruhe entstehen.
Auch Roman bringt viel Erfahrung mit. Seit mehreren Jahren ist er für den reibungslosen Ablauf des Alpsommers und des Alpabzugs Flimserstein verantwortlich. Seine Wurzeln liegen in der Alpwirtschaft, geprägt von seinem Großvater, einem Luzerner Landwirt. „Beim Abtrieb trage ich seine Kutte. Das ist mein Weg, ihm nah zu sein“, sagt er. Diese Verbindung zur Vergangenheit hilft ihm, den Alpabzug als Ausdruck von Verantwortung, Glauben und Respekt gegenüber Tieren und Natur zu leben.

Schweizer Volkskultur mit Jodeln und Alphorn wird hier zelebriert: Das Jodelchörli Sardona Flims und die Alphorngruppe Flims.

Durch Fidaz geht es weiter ins Tal nach Flims.

Robert (Röbi) Caprez ist Profi im Schmücken der Kühe.

Geschmückte Kühe auf der Alp Flimserstein.

Die ausgesetzte Scala Mola erfordert höchste Konzentration.

Schweizer Volkskultur mit Jodeln und Alphorn wird hier zelebriert: Das Jodelchörli Sardona Flims und die Alphorngruppe Flims.
Sobald Roman oben auf der Alp startet, verfolgt das Festpublikum gespannt jede Bewegung, während er und rund 60 Älplerinnen und Älpler mit knapp 200 Kühen und 100 Kälbern aus etwa 17 Betrieben vorsichtig die Scala Mola hinuntersteigen. Ein ehrfürchtiger Moment auf dem 1645 in den Felsen gehauenen und stark ausgesetzten Weg. Kein Wunder, dass sich jedes Jahr im September Tausende Schaulustige rund um das Hochtal Bargis versammeln. Live-Streams, Social-Media-Posts und Kommentare füllen die Kanäle. Jeder Schritt wird festgehalten, geteilt und gefeiert. So verschmelzen jahrhundertealte Tradition und digitale Vernetzung zu einem modernen und medialen Event.
„Für mich persönlich ist der Alpabzug natürlich ein schönes Fest … die geschmückten Kühe, das Bild, die Glocken. Aber schon die Glocken sind ein Widerspruch. Heute sind sie ein Symbol für Tradition, morgen jedoch eine Lärmbelästigung.“ Für ihn ist es ein Balanceakt zwischen den Feierlichkeiten und dem schwindenden Respekt für die tägliche Arbeit der Bauern. „Es braucht mehr Achtung für uns Landwirte und Landwirtinnen. Unsere Arbeit ist nicht glamourös, aber die Milch kommt eben nicht aus dem Supermarkt“, sagt er.
Der Alpabzug markiert aber nicht nur den sichtbaren Höhepunkt, sondern auch das Ende eines langen, intensiven Alpsommers. Für Roman und sein Team ist dieser Moment jedes Jahr besonders. Die vielen Wochen auf der Alp, die kurzen Nächte, die tägliche Arbeit mit den Tieren finden nun ihren Abschluss. Mit dem Abstieg kehren die Tiere zu ihren Höfen und Bauernfamilien zurück – hoffentlich gesund und wohlbehalten. Für die Älpler ist das ein Augenblick der Erleichterung, der Dankbarkeit und oft auch des Stolzes. Denn wenn am Ende alles gut gegangen ist, dann war es ein gelungener Sommer.
Alpabzug Flimserstein
Termin: Am 20. September 2025 fand der jährlich stattfindende Alpabzug Flimserstein zum 20. Mal statt.
Verlauf: Alp Flimserstein, Abstieg über die Scala Mola ins Hochtal Bargis, weiter nach Flims.
Programm: Traditioneller Buura Z’Morga (Bauernfrühstück), Festwirtschaft, Marktstände, Musik.
Besonderheit: Knapp 200 Kühe und 100 Kälber, begleitet von Älplern und vielen Zuschauern.
Wanderung von Bargis über die Scala Mola
Die Wanderung auf der Scala Mola zählt zu den eindrucksvollsten historischen Wegen der Region und verbindet Naturerlebnis mit lebendiger Tradition.
Route: Von Flims Dorf oder Fidaz ins Hochtal Bargis, von dort auf dem historischen Felsweg Scala Mola hinauf zur Alp Flimserstein.
Charakter: Anspruchsvolle, teils steile Bergwanderung (Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erforderlich).
Höhepunkte: Spektakuläre Ausblicke auf den Flimserstein, eindrucksvolle Felslandschaft, authentische Alpatmosphäre.
Dauer: ca. 2–2,5 Stunden von Bargis zur Alp Flimserstein (Aufstieg ca. 500 Höhenmeter).
Tipp: Während des Alpabzugs ist die Scala Mola vormittags für Wanderer gesperrt – ideal ist eine Wanderung am Vortag oder nach dem Fest, um die besondere Stimmung zu erleben.
Weitere Infos: Tourismus Flims Laax Falera, www.flimslaax.com