Die Alpen in spektakulären Panoramakarten – von den 1950er-Jahren bis heute, von den slowenischen Karstalpen bis zur Hochgebirgsregion um den Montblanc
Gesehen hat sie vermutlich jeder schon einmal, der in den Alpen unterwegs ist: Panoramakarten, deren erste moderne Exemplare in den 1930er-Jahren erschienen und die bis heute hergestellt werden. Oft stehen sie als riesige Schautafeln in Zentren touristischer Gemeinden. Sie markieren großformatig den Beginn von Wanderwegen; in Skigebieten vermitteln sie einen Überblick über Liftanlagen, Pisten, Zubringer, Einkehrmöglichkeiten und ihrem räumlichen Verhältnis zueinander. Gedruckt erscheinen sie in Magazinen, Prospekten, Flyern und Pistenplänen im Taschenformat.
Im Grunde sind Panoramakarten zwischen Slowenien und Frankreich, zwischen Julischen Alpen und Alpes Maritimes so allgegenwärtig, dass sie wie selbstverständlich konsumiert und entschlüsselt werden.
Ihre schlichte Schönheit, das Zusammenspiel der Farben und Formen, das Verhältnis von Himmel und Erde – ein zu zwei Drittel in der Regel – und die gekonnte Inszenierung der Landschaft, all das fällt für gewöhnlich nicht auf. Was ja auch so gewollt ist. Denn Panoramakarten müssen in den Hintergrund treten gegenüber den Regionen, die sie bewerben sollen – abstrahiert von geografischen Realitäten, befreit von ästhetischen Makeln, generös hinwegsehend über bauliche Sünden und menschlichen Gestaltungswillen, der die Landschaft kontinuierlich verändert.

Allgäu, Bayerische Alpen. © KARTE: H. C. Berann, Cormar Publisher, Bozen.
Bilden Panoramen also tatsächlich das Gebirge ab? Verfügen sie wirklich über jene Authentizität, die ihr naturalistischer Charakter suggeriert? Oder anders gefragt: Kann man sich auf sie verlassen? Und wäre dies nicht der Fall, welchen Nutzen hätten sie?
Kaum jemand käme auf die Idee, mit einem Panorama als Orientierungsmittel zum Wandern oder auf Skitour zu gehen. Vernünftiger Maßstab, Höhenlinien, Bodenbedeckung, Nordausrichtung, Ortsbezeichnungen, Wegverläufe – alles Fehlanzeige. Zugleich aber, und damit wird die Faszination der Panoramakarten schon etwas greifbarer, zugleich aber täuscht ihre simple Anmutung über die Komplexität hinweg, die die Herstellung der Oberflächen in sich birgt.
Während die Alpen das Objekt der Beschreibung sind, sind Alpenpanoramen die Beschreibung des Objekts. Sie sind keine Abbildungen, sondern Erfindungen. Man muss sich das vergegenwärtigen, wenn man verstehen will, warum sich Heinrich C. Berann (1915–1999) selbst als „Schwindler“ bezeichnete. Der Österreicher gilt als Begründer der modernen Panoramamalerei und bis heute als unerreichter Meister seines Fachs. Neben 159 Plakaten und 210 Prospekten, die Berann für Städte, Gemeinden, Regionen und Tourismusverbände entwarf, malte er im Lauf seines Schaffens gut 650 Panoramen.

Monte-Baldo, Gardasee-Voralpen. © KARTE: Heinz Vielkind, Cormar Publisher, Bozen.
Panoramen sind Hybride, angesiedelt irgendwo zwischen Fotografie, Kunst, Kartografie und der Weltsicht von Menschen. Diese Mehrdeutigkeit trägt zu ihrem Zauber bei. Gute Pano-ramen erzeugen auf den Betrachter eine Sogwirkung, die weder Fotografien noch digitale Repräsentationen erreichen – sofern sie von einem Könner hergestellt werden. Tatsächlich begriff Berann sich zeitlebens als Künstler, nicht als Kartograf. Das mag paradox erscheinen, geben Panoramamaler doch räumliche Phänomene und Beziehungen auf der Erdoberfläche wieder, die eine unleugbare physische Existenz besitzen. Damit steht ihr Wirken der Alpentopografie nahe. Während Kartografen jedoch um eine möglichst exakte Darstellung der Landschaft bemüht sind, überschreiten Panoramamaler in gewisser Hinsicht die Grenze zwischen bloßer Wiedergabe und Interpretation, zwischen Wissenschaft und Kunst.
Es ist wohl der Mischung aus Beobachtungsgabe und technischer Kunstfertigkeit geschuldet, die Beranns Panoramen bis heute zu etwas Besonderem machen.

Innichen, Westliche-Tauernalpen. © KARTE: Heinz Matthias, Cormar Publisher, Bozen.
Mittels seiner Panoramakarten die Alpen zu bereisen, bereitet in doppelter Hinsicht Vergnügen. Landschaften, die man bereits besucht hat, erfahren vor dem geistigen Auge eine Wiederauferstehung. Erinnerungen können mit dem Dargestellten abgeglichen, vielleicht auch aufgefrischt werden. Erlebnisse gewinnen erneute Präsenz angesichts der Umgebung, in der sie stattfanden. Zum anderen eröffnen die bildhaften Szenerien aber auch neue Möglichkeiten – Panoramen unbekannter Regionen entfalten sich, laden ein zu Entdeckungsreisen, gebären Ideen und lassen Reisepläne reifen.
So unterschiedlich Beranns Unikate auch anmuten, gemeinsam ist ihnen ein erstaunlicher Effekt: Der rechteckige Grundriss, der perspektivische Blick auf das Gelände durch simulierte Dreidimensionalität, der Horizont und der Himmel, die genaue Darstellung der Landschaft, die scheinbar realistische Wiedergabe des Raums – diese Kombination erzeugt etwas, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Und damit pure Magie.
© für die Karten von H. C. Berann, Heinz Vielkind und Heinz Matthias bei Cormar, Bozen, und bei den entsprechenden Fremdenverkehrsämtern, 2019/2024
Die Alpen in spektakulären Panoramakarten, jetzt als Sonderausgabe
Der Band präsentiert Panoramakarten von den 1950er-Jahren bis heute aus allen Alpenregionen. Faszinierende Winterdarstellungen, in denen die spezielle Topografie der Landschaft durch den Schnee besonders hervorgehoben wird, stehen neben nicht minder detailreichen Sommerkarten. Im Zeitalter von Photoshop und GPS üben handgezeichnete Panoramakarten eine ganz besondere Anziehungskraft aus. Die Bilder entstehen auf der Grundlage von Panoramafotografien, die zumeist von den Kartenzeichnern selbst aus dem Hubschrauber aufgenommen werden. Ursprünglich als Grundlage für Skikarten gedacht, entwickelten sich diese Panoramen zu eigenständigen Kunstwerken, die bei Vertretern der älteren Generation Erinnerungen an die großen Kartentafeln im Geografieunterricht wecken und den nachfolgenden „Digital Natives“ eine ganz neue Perspektive auf die Welt eröffnen.
Tom Dauer
Alpen. Die Kunst der Panoramakarte
Paperback, Klappenbroschur, 192 Seiten, 24 x 30 cm, 28 €, Prestel Verlag