Wie ich mit meinem Hund über die Alpen wanderte
Manchmal ist man einfach genau da, wo man sein soll. Ich sitze mit meinem Hund Ralfi auf einer Bank vor dem Winterraum der Gschnitzer Tribulaunhütte in Tirol. Vor uns leuchtet der Habicht in zartem Rot – mit 3277 Metern thront er über den Stubaier Alpen. Unterhalb liegt die Innsbrucker Hütte, von der wir heute herübergewandert sind. Zum ersten Mal wird mir bewusst, welche Strecken wir jeden Tag zurücklegen. Zwei Wochen sind wir jetzt schon unterwegs, Ralfi und ich, seit unserem Aufbruch am Münchner Marienplatz. Und auch wenn wir beide müde sind, fühle ich mich unbeschwert.
Obwohl Ralfi und ich schon viele Wanderungen und Mehrtagestouren unternommen haben, zeigt mir diese Weitwanderung, wie eng wir in den letzten Jahren zusammengewachsen sind. Was wir hier leisten, ist echte Teamarbeit – auch wenn es oft Ralfi ist, der mich immer wieder inspiriert. Er lässt sich täglich auf Neues ein, überwindet Hindernisse, passt sich an – oft schneller als ich.
Als ich ihn im Herbst 2020 in einem Tierheim in Portugal adoptierte, wusste ich nicht, ob sich dieser zehn Monate alte portugiesische Jagdhund jemals zum Berghund entwickeln würde. Heute weiß ich: Ja, hat er! Er wandert und kraxelt wie eine Gams – auf unseren Touren hat er sich sogar den Spitznamen „Ralfi Rockstar“ verdient. Solange der Fels Absätze bietet, kann er sich mit seinen dünnen Beinen hochstemmen.
Bei der Planung ließ ich mich von bekannten Weitwanderwegen inspirieren, aber die gewählte Route war unsere ganz persönliche Linie durch die Alpen. Ich verband meine Lieblingsgebirge: Bayerische Voralpen, Karwendel, Stubaier Alpen, Dolomiten und schließlich der Gardasee. Die größte Herausforderung: alles hundetauglich zu gestalten; keine Klettersteige, keine ausgesetzten Passagen jenseits unserer Fähigkeiten. Ich habe mich an der alpinen Wanderskala des Schweizer Alpen-Clubs orientiert – mit Hund traue ich mir maximal Schwierigkeit 3 zu. Nicht jede Unterkunft erlaubt Hunde.
Was sich bald zeigt: Eine Alpenüberquerung mit Hund ist vor allem eine für den Hund. Ralfis Bedürfnisse stehen an erster Stelle, meine Ambitionen treten in den Hintergrund. Wenn er müde ist, kürzen wir auch mal mit dem Bus ab. Ralfi entschleunigt mich. Das tut mir gut, denn früher kam ich selten zur Ruhe. Da Ralfi selbst oft nervös ist und viel Orientierung braucht, zwingt er mich dazu, klarer und strukturierter zu leben. In gewisser Weise ist er mein Yogi in Hundegestalt.
Doch nicht jede Etappe ist leicht. Der Spätsommer bringt extreme Hitze mit sich, die uns immer wieder zu Pausen zwingt. Im Stubaital sitzen wir drei Tage lang wegen Unwettern, Steinlawinen, gesperrten Wegen und Starkregen fest. In den Dolomiten wird es bergtechnisch anspruchsvoller. Besonders im Latemargebirge stoße ich mit schwerem Rucksack und Hund an meine Grenzen.
Der letzte Abschnitt führt uns durch das Trentino – über waldreiche Etappen und durch potenzielles Bärengebiet. Dort überkommt mich eine Urangst, wie ich sie noch nie gespürt habe. Sie kriecht aus meinem Innersten empor und treibt mir Tränen in die Augen. Gesehen haben wir keinen Bären, aber ich wähne sie überall – hinter Bäumen, Felsen, in jeder Höhle, an der wir vorbeiwandern.
Am Tag der Deutschen Einheit steigen wir schließlich nach Malcesine am Gardasee ab. Eigentlich wollten wir das Monte-Baldo-Massiv überqueren, aber es sind Gewitter angesagt. Unten angekommen, trifft uns der Kulturschock. Erst da wird mir bewusst, wie abgeschieden wir unterwegs gewesen sind.
Am 6. Oktober erreichen wir nach 50 Tagen, gut 500 Kilometern und 23 000 Höhenmetern zu Fuß Verona. Ich hätte nicht erwartet, dass mich diese Reise so berührt. Die Ruhe der Berge, Ralfi, all die Momente dazwischen – das hat eine tiefe Demut in mir erzeugt. Und ich spüre: Ich will mehr davon.

50 Tage Natur und Gipfelglück, urige Hütten
und die ganz große Freiheit
Paperback, 240 Seiten, 18 €
Piper Verlag, www.piper.de
Nadine Regel, nadineregel.com