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Die Alpen – Vom Verschwinden einer Kulturlandschaft

Die Alpen sind eine der am stärksten touristisch erschlossenen Regionen der Welt. Großparkplatz am Tiefenbachferner, 2740 m, oberhalb von Sölden im Ötztal

Die Alpen sind eine der am stärksten touristisch erschlossenen Regionen der Welt. Großparkplatz am Tiefenbachferner, 2740 m, oberhalb von Sölden im Ötztal © Foto: LOIS HECHENBLAIKNER

Klimawandel & Co. – die Alpen als Natur- und Kulturlandschaft drohen zu verschwinden. Mit eindrücklichen Fotografien und Texten dokumentiert der Bildband „Die Alpen“ Ursachen und Wirkungen und ruft zum fundamentalen Umdenken auf. Ein Plä­do­yer von Autor und Geograph Professor Werner Bätzing

Seit der touristischen Entdeckung der Alpen um das Jahr 1780 herum gilt dieses Gebirge als Vorzeigebeispiel von schöner Natur in ganz Europa. Aber die Besucher übersehen bei ihrer Alpen-Bewunderung, dass es gar nicht die Natur ist, die das Gebirge so attraktiv macht: Im Naturzustand wären die Alpen bis in Höhen von 2000 bis 2300 m komplett bewaldet, und die Alpen wären ein eher eintöniges und dunkles Waldgebirge.

Das, was die Alpen so „schön“ macht, ist der ausgeprägte Gegensatz zwischen lebensbedrohlichen Felswänden, Felsgipfeln und Gletschern auf der einen Seite und „lieblichen“ Wiesen und Weiden im Tal auf der anderen Seite – dieser starke Kontrast berührt die Besucher und spricht sie emotional stark an. Die Wiesen und Weiden im Tal sind aber keine Natur, sondern gerodete Waldflächen, also Kulturlandschaften. Und auch die faszinierenden Blicke vom Tal auf die Gipfel und Gletscher sind für die Besucher nur möglich, weil die Alpen eine offene Kulturlandschaft sind, denn aus einem Wald heraus würden sich nirgendwo solche Ausblicke bieten.

Das bedeutet: Die Schönheit der Alpen ist kein Naturprodukt, sondern sie verdankt sich dem kleinräumigen Wechsel von Natur- und Kulturlandschaften, also der Tatsache, dass die Alpen seit gut 7.000 Jahren ein menschlicher Lebens- und Wirtschaftsraum sind.

In der vorindustriellen Zeit sind die Ressourcen der Alpen wertvoll, und sie werden so genutzt, dass sie auch die zukünftigen Generationen weiterhin nutzen können, d.h. die Alpen werden tiefgreifend ökologisch verändert, aber nicht zerstört. Dies ändert sich mit der Industriellen Revolution grundsätzlich: Alle Produkte des Alpenraums werden entwertet, weil sie jetzt zu teuer sind, und jede Nutzung wird seitdem aus Konkurrenzgründen nur noch kurzfristig ausgerichtet.

Ab 1880 verändert die moderne Wirtschaft die Alpen tiefgreifend: Die Berglandwirtschaft nimmt immer mehr ab und zieht sich aus vielen Gebieten zurück, wodurch viele Nutzflächen verbuschen und verwalden. Sehr viele dezentrale Arbeitsplätze in Land- und Forstwirtschaft, Handwerk, Bergbau und Gewerbe verschwinden in den Seitentälern. Die Siedlungen werden entweder menschenleer, oder sie entwickeln sich zu reinen Wohnstandorten, von denen man täglich zu den Arbeitsplätzen im Haupttal oder am Alpenrand pendelt. Der eigentliche Gebirgsraum wird dadurch wirtschaftlich stark geschwächt und kulturell entwertet.

In den Haupttälern der Alpen, die mit Eisen- und Autobahn erschlossen sind, finden wir die entgegengesetzte Entwicklung: Hier wachsen Bevölkerung und Wirtschaft so stark, dass lange Siedlungsbänder mit zahllosen Wohn- und Gewerbegebieten entstehen – hier verstädtern die Alpen sichtbar, wie man beim Blick vom Gipfel ins Tal oft feststellen kann.

Bildergalerie Anklicken zum Vergrößern der Bilder // © Fotos: Lois Hechenblaikner, Marco Giacometti, Jörg Bodenbender, Werner Bätzing, Sammlung Willi Pechtl, Erika Hubatschek, 1943 aus „Bauernwerk in den Bergen“, Edition Hubatschek, Innsbruck

Neben der Entsiedlung des eigentlichen Gebirges und der Verstädterung der Haupttäler gibt es nur eine einzige weitere Entwicklung: Der Tourismus wertet ausgewählte Standorte im Gebirgsraum auf, was mit einem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum verbunden ist. Wenn der Tourismus langfristig erfolgreich ist, führt er zu einer starken Zersiedlung und Verstädterung der Tourismuszentren und zu einem Totalumbau von Teilen der ehemaligen Kulturlandschaften. Diese werden in technisch stark aufgerüstete Freizeit- und Vergnügungsparks umgewandelt, die kaum noch etwas mit den Alpen, aber sehr viel mit Großstadt-Atmosphäre zu tun haben. Im Gegensatz zur verbreiteten Meinung, die Alpen seien überall stark touristisch erschlossen, muss man aber darauf hinweisen, dass es nur etwa 300 große Tourismuszentren gibt (das sind 5% aller Alpengemeinden), in denen sich aber bereits mehr als die Hälfte aller Gästebetten der Alpen konzentrieren. Auf Grund des scharfen Verdrängungswettbewerbs, der seit dem Jahr 2005 eingesetzt hat, bauen diese Tourismuszentren ihre Position derzeit zu Lasten der kleinen und mittleren Tourismusorte permanent weiter aus.

Die gegensätzliche Entwicklung von Entsiedlung der Gebirgsräume und Verstädterung der Talräume wird also ergänzt durch das sehr starke Wachstum von 300 Tourismuszentren in höheren und hohen Lagen, was jedoch nicht die Peripherie stärkt, sondern das Hochgebirge punktuell verstädtert.

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Landschaften der Alpen? Im eigentlichen Gebirgsraum verbuschen und verwalden die Nutzflächen, die nicht mehr gemäht oder beweidet werden; dadurch geht die Kleinräumigkeit der Landschaft verloren. Und durch den Klimawandel ziehen sich die Gletscher so stark zurück, dass sie vom Tal aus nicht mehr zu sehen sind. Auch wenn die Berge selbst stehenbleiben, verliert die Landschaft deutlich an Attraktivität.

In den Haupttälern führt die Verstädterung zu austauschbaren Siedlungsformen mit anonymen Zweckbauten, wie man sie überall in Europa findet, und die starke Zersiedlung sorgt für einen hässlichen Siedlungsbrei mit hohen Umweltbelastungen. Gleiches gilt für die Tourismuszentren, in denen oft die Kirche das allerletzte traditionelle Gebäude ist. Und die Freizeit- und Skigebiete sind so perfekt ausgestattet und durchgestylt, dass sie ökologisch fragil sind und Schönheit ausgeschlossen ist.

Deshalb kann man bilanzieren: Geht die Entwicklung weiter wie bisher, dann werden die schönen Landschaften der Alpen vollständig verschwinden, und übrig bleibt ein dunkles Waldgebirge, das an wenigen Stellen stark verstädtert ist. Noch ist es nicht so weit, aber damit diese düstere Perspektive nicht Wirklichkeit wird, braucht es in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ein fundamentales Umdenken.

Buchtipp
Die Alpen, Werner Bätzing, Das Verschwinden einer Kulturlandschaft, gebundene Ausgabe, 38 Euro, 216 Seiten, WBG Theiss Verlag, mit 228 Abbildungen und 2 Karten Massentourismus, Autobahnen, Stauseen und neue Gewerbegebiete verändern den Alpenraum derzeit stark. Werner Bätzing bezieht mit seinem neuen Bildband „Die Alpen“ Stellung und kritisiert die aktuellen Entwicklungen scharf.
 
„Die Alpen“, Werner Bätzing, Das Verschwinden einer Kulturlandschaft, gebundene Ausgabe, 38 Euro, 216 Seiten, WBG Theiss Verlag, mit 228 Abbildungen und 2 Karten