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Weltalte Waschküche – Skihochtour zum Großvenediger

Aufstieg über den aperen Fahrweg, Blick nach Süden zur LasörlinggruppeZustieg zur Johannishütte aus dem Virgental

Mehr als 1000 Mal stand Sigi Hatzer auf dem Gipfel des Großvenedigers. Aber in Schneetreiben und Nebel wird die Klassikertour im Frühjahr selbst für ihn zum Abenteuer

Auf dem Gipfelgrat ist Sigi Hatzer noch in Witzellaune. „Ein wunderbarer Whiteout!“, ruft er, als wir im Nebel über die Schneeschneide in gut 3600 Metern Höhe stapfen. Aber zurück bei den Skiern, als wir die Felle abziehen und die Bindungen auf Abfahrt stellen, wird selbst „Mr. Großvenediger“ unentspannt. „Fahrt genau meiner Spur hinterher“, sagt er eindringlich. Dann kurvt er im Pflug voraus über das weite Eisfeld, den Blick starr aufs GPS-Gerät geheftet.

Der große Auftritt liegt ihm nicht, das merkt man gleich, als er uns am Vortag im T-Shirt begrüßt, unten am Waldseilgarten, den er selbst mit der Kettensäge gebaut hat. Hatzer spricht leise, zurückhaltend. Am 20. Juli 2019 aber nahm er sogar ein Fernsehteam mit auf den Berg seines Lebens, zusammen mit seiner Frau, seinem Bruder und den beiden Söhnen. Der Anlass war ein besonderer: Zum 1000. Mal erklomm er an diesem Tag den Gipfel.

Der Großvenediger gehört zur alpinen Spitzenprominenz. Einst hieß er Stützerkopf, heute wird er überall als „weltalte Majestät“ vermarktet. Den royalen Titel schenkte ihm Ignaz von Kürsinger, einer der Erstbesteiger von 1841. Nachdem mehrere Bergsteiger, darunter auch Erzherzog Johann von Österreich, gescheitert waren, erklomm die von ihm angeschobene Expedition am 3. September 1841 endlich den Gipfel – gut vier Jahrzehnte nach dem Großglockner. Wiederum 60 Jahre später gelang dies Günther Freiherr von Saar als erstem Skibergsteiger.

 

Wie hoch der Großvenediger damals wohl war? Lange war er mit 3666 Metern als höchster Salzburger Gipfel gelistet, bis 2014 nachgemessen wurde – und neun Meter weniger herauskamen. Zudem stellten die Vermesser fest, dass der höchste Punkt mittlerweile auf Osttiroler Seite liegt. Immerhin: Der vierthöchste in Österreich bleibt er. Dass man vom Gipfel bis nach Venedig sieht, ist allerdings ein Gerücht.

Bartgeier am Bröckelhang

Hatzer wuchs in Prägraten auf, am Fuß des Großvenedigers. Im Timmeltal hütete er als Junge die ganzen Sommerferien über Kühe und Schafe. In den Mußestunden suchte er Mineralien und Kristalle, mit zwölf Jahren begann er zu klettern. Und zwei Jahre später stand er mit eine paar Freunden das erste Mal auf dem Gipfel. Damals seien hier nur eine Handvoll Leute Skitouren gegangen, sagt Hatzer, „wir waren komplette Exoten“. Erst in den vergangenen 20 Jahren habe das Tourengehen stark zugenommen, auch viele Einheimische seien nun unterwegs. An Spitzentagen steigen der Majestät nun 250 Leute aufs Dach.

An diesem Mittwoch Ende April aber sitzen wir allein im Hüttentaxi. Oberhalb eines Steinbruchs setzt uns die Fahrerin ab. Weiterfahren ist unmöglich, ein Erdrutsch hat die Straße verschüttet. Mit geschulterten Skiern stapfen wir das enge, steile Dorfertal hinauf. „Hier gehen wir jetzt mal schön zügig“, sagt Hatzer, „mit 10 bis 15 Metern Abstand.“ Denn im Frühjahr bröckelt der Hang oberhalb. Und nach Neuschnee steigt die Lawinengefahr.

Als die kritische Passage hinter uns liegt, stoppt Hatzer und späht mit dem Fernglas umher. Auf dem Graskamm über einer Schlucht entdeckt er ein Dutzend Gämsen. Auch der Blick über die Schulter lohnt. Hinter uns staffeln sich die verschneiten Grate der Lasörlinggruppe. „Da sind ein paar schneidige Schneebretter abgegangen“, sagt Hatzer.

 

Unter dem Gumpachkreuz steigen wir in die Tourenski und gleiten über die Schneereste am Rand der aufgeaperten Kiesstraße. Von den Eiszapfen am Felsen tropft Tauwasser. Ein Bartgeier dreht hoch oben eine Runde und segelt dann mit seinem rötlichen Bauch direkt über uns hinweg. „Da oben in der Steilwand brütet er“, sagt Hatzer, „dieses Jahr hat er wieder Junge.“

Kässpätzle mit Berggeschichten

Hochtouren sind am Großvenediger erst möglich, wenn Anfang März die Hütten öffnen. Ansonsten ist der Höhenunterschied zu extrem. Wenn die Hütten Anfang Mai wieder schließen, fährt man mit dem Auto hoch – oder per E-Bike. Von den drei Normalwegen auf den Gipfel nimmt Hatzer meist die Südvariante über die Johannishütte. „2121 m“ steht auf dem Schild an der Holzfassade. 1999 wurde die Hütte erweitert, „vorher war es eine Streichholzschachtel“, sagt Hatzer. Für Sonnentage allerdings bleibe sie viel zu klein. „Manchmal schlafen Gäste im Bad auf dem Boden“, sagt Margit Unterwurzacher. Die 53-Jährige und ihr Mann Leonhard sind seit 1995 hier Hüttenwirte. An diesem Abend haben es die beiden ruhig. Nebenan teilen sich zwei junge Kärntner mit Wallemähne und Schnurrbart eine Pfanne Kässpätzle, hinter dem weißen Kachelofen sitzen drei Niederländer auf der Eckbank.

Beim dritten Bier kommt Hatzer auf Erzähltemperatur. 2005 sei er als Training sogar zwei Mal an einem Tag auf den Gipfel gestiegen, auf Skiern. Das erste Mal brauchte er von Hinterbichl aus drei Stunden und 23 Minuten. Das zweite Mal drei Minuten mehr. Besonders reizvoll findet Hatzer die Überschreitung, bei der man im Norden über Rostocker und Kürsinger Hütte aufsteigt und dann über die Südhänge abfährt. „Aber dafür muss das Wetter auf beiden Seiten des Hauptkamms passen. Und das ist selten.“ Viele seiner Gäste unterschätzen die Höhe. Sie bekommen höllische Kopfschmerzen, übergeben sich, müssen umdrehen. Zudem ist man dem Wetter aus allen Richtungen ausgesetzt. „Manche nennen ihn Kuhberg“, sagt Hatzer. „Da kommt jeder hoch, meinte ein Kollege. Vier Tage später hing er in einer Spalte.“ Im Winter seien Spaltenstürze seltener, weil die Schneebrücken stabiler und das Gewicht auf Skiern besser verteilt sei. Aber natürlich sei auch er schon mal eingebrochen, sagt Hatzer. „Aber nur bis zur Hüfte oder Brust.“

A zache Partie

Die Chancen auf Sonne stünden bei 50:50, prophezeite die Wetter-App. Aber am Morgen wird klar: Die falsche Seite hat gewonnen. Dicke Wolken verhängen den Gipfel, es schneit. Und die Sicht wird mit jedem Höhenmeter mieser. „Jetzt ist es schon eine Herausforderung, die richtige Spur zu finden“, sagt Hatzer. Natürlich gebe es eine GPS-Route. Aber je nach Schneeauflage und Spalten müsse er immer wieder justieren. Immerhin kann er noch den Sporn des Rainerhorns anpeilen. Und nach zweieinhalb Stunden wird das Flockengestöber sanfter, hinter dem milchigen Weiß erahnt man sogar die Sonne. Zur Rechten schälen sich die finsteren Konturen der Gastacher Wände aus dem Nebel, dahinter sticht die scharfe Pyramide der Zopetspitze himmelwärts. Und nach ein paar Kuppen sehen wir oberhalb das Hüttenensemble des Defreggerhauses.

Hochtouren sind am Großvenediger erst möglich, wenn Anfang März die
Hütten öffnen.

Seine Lage ist grandios, aber mangels Heizung und Isolation ist es geschlossen. Also bleibt für die Pause nur der Winterraum. Im Stockbett liegen zerwühlte Decken und Schlafsäcke einer anderen Gruppe. Es gibt einen rustikalen Tisch und Stühle, einen Ofen, Geschirr und ein Brett mit Nägeln als Kleiderhaken. Alles, was man für die Nacht vor dem Gipfelsturm braucht. Im Vorraum stapelt sich sogar Brennholz – und in der Ecke leider ein Müllhaufen. „A zache Partie mit dem Wetter da draußen“, grummelt Hatzer. Schneeschwaden wirbeln vor dem Fenster vorbei, der Wind heult. Nach einer Stunde werden sogar in der Hütte die Finger klamm. Zeit zum Aufbruch.

Bald müssen wir abschnallen und über eine Steilstufe mit Stahlbügeln hinabkraxeln. Kurz darauf, auf rund 3100 Metern Höhe, wirft Hatzer das Seil aus und klickt jeden in eine Schlaufe. Von nun an heißt es, diszipliniert in der Kolonne zu gehen. Das Seil soll sich weder spannen noch schlapp im Schnee hängen. Eine Konzentrationsübung. Im extrem warmen Sommer 2022 sei der Gletscher stark ausgeapert, sagt Hatzer, „da sind überall Riesenspalten frei geworden.“ Der Klimawandel sei aber vor allem im Sommer ein Problem, wenn die Flanken bröckeln und der Steinschlag immer gefährlicher wird. Im Winter dagegen habe sich wenig geändert. „Bis Ende Mai kannst du fast jedes Jahr Skitouren machen.“

Die Venedigergruppe bedeckt weiterhin die größte zusammenhängende Gletscherfläche der Hohen Tauern.

Die Venedigergruppe bedeckt weiterhin die größte zusammenhängende Gletscherfläche der Hohen Tauern. „Die Leute glauben, wenn da eine Spur ist, sind da keine Spalten“, sagt Hatzer. „Das ist ein Irrtum. Die Spur führt über viele Spalten drüber.“ Der eingewehte Schnee verdeckt sie nur. Sanft bergauf geht es über das Rainerkees, einen 200 Meter dicken Eisfluss. An der Scharte unterhalb des Rainerhorns passieren wir einen Wegweiser mit Metallpfeilen für jede Himmelsrichtung. Ansonsten sehen wir gerade noch den Vordermann. Gleichmäßig und stumm schlurfen wir durch die Waschküche. Bis Hatzer plötzlich stoppt und die Ski abschnallt. „Wir sind jetzt 70 Meter unter dem Gipfel“, sagt er, nur noch ein Grat trennt uns vom Kreuz. Wir rammen die Ski in den Schnee, Hatzer knüpft die Schlingen enger. Am kurzen Seil stapfen wir über die Schneide. Was für eine Aussicht das wäre, über all die Berge ringsum! Aber so bleibt uns auch der Blick in den Abgrund rechts und links erspart.

 

Vom Gipfelkreuz stechen Eiszapfen nach hinten wie die Fransen einer Jacke im Sturm. Hatzer bekreuzigt sich, bevor er es fast zärtlich anfasst. Aufstellen zum Gipfelfoto, dann gibt es keinen Grund mehr, länger zu verweilen. Wie sagte Hatzer? „Der Berg ist ein Freund. Er hat mir immer wieder Zeichen gegeben, dass ich umdrehen soll.“ Uns zeigt er, warum wir wiederkommen sollen: Unter der Wolkendecke reißt es plötzlich auf, und wir dürfen noch ein bisschen im feinen Pulverschnee wedeln.

 

Notizen

Anreise: Mit dem Zug nach Kitzbühel, von dort per Bus zuerst nach Matrei in Osttirol und weiter nach Prägraten am Großvenediger.
Übernachtung: Die Johannishütte (www.johannis-huette.at) ist von März bis Anfang Mai geöffnet. Bei schönem Wetter sperren die Wirte auch an den folgenden Wochenenden auf.
Skitour: Es gibt drei Normalwege auf den Gipfel: vom Pinzgau im Norden, vom Tauerntal im Osten und vom Virgental im Süden. Der Aufstieg von Prägraten im Virgental summiert sich auf 35 Kilometer und 2200 Höhenmeter.

Skitouren mit Sigi Hatzer lassen sich unter venediger-bergfuehrer.at oder telefonisch unter +43/699/10 69 65 44 buchen.